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Vierter Advent - Samstag

Am heutigen Samstag schicke ich einen lieben Gruß an alle, die allein über die Weihnachtstage sind, die arbeiten müssen, die aus verschiedenen Gründen keine Familie oder keinen Kontakt zur Familie haben ...

Manchmal vergesse ich, dass nicht jeder die Zeit so verbringt wie ich, mit der Familie, mit den Menschen, die ich liebe. Vielleicht ein bisschen langweilig, manchmal auch ein wenig anstrengend, aber trotzdem voller Liebe und Wärme und Gemütlichkeit. Wir sind nicht religiös, aber wir spüren doch diesen besonderen Weihnachtszauber. Ich weiß, dass ich damit  in gewisser Weise privilegiert bin und bin dankbar für die Familie, die ich habe. 

Deshalb wünsche ich euch eine ganz besonders schöne Zeit!


18.

Tatsächlich stehe ich am Freitagabend um 18 Uhr in einer riesigen Küche in einem Gewölbekeller, umgeben von einer Schar älterer Damen, die aufgeregt durcheinanderreden. Ich bin der einzige Mann und habe schon zweimal in Erwägung gezogen, still und heimlich wieder zu verschwinden. Allerdings hat mich eine lustige Gruppe von vier Frauen adoptiert. Verdammt, da komme ich wohl nicht mehr ungesehen raus. 

Dann betritt Martin die Küche. Er hat eine weiße Schürze umgebunden, mit einem Lebkuchenmännchen drauf, das ebenfalls eine Schürze und eine Kochmütze trägt. Als er mich sieht, stockt er für einen Moment, fängt sich jedoch schnell wieder und beginnt mit dem Kurs. Es geht nicht allein ums Backen, sondern auch um die richtigen Zutaten. Jetzt weiß ich, was Pottasche ist: ein weißes Pulver, das als Triebmittel für schwere Teige, wie Lebkuchenteig dient. Ich habe den Unterschied zwischen schwarzen und grünen Kardamom erfahren, inklusive ekelhafter Kostprobe. Außerdem habe ich an Zimt, Nelken, Sternanis und anderen weihnachtlichen Gewürzen gerochen, bis mir ganz schwindlig wurde. Wir wiegen und vermengen Zutaten, kneten, lachen und albern herum. 

Martin ist ein großartiger Lehrer und Bäcker, lustig, geduldig und schlagfertig. Manchmal betrachte ihn hingerissen. Seine Leidenschaft ist unverkennbar. Er strahlt, seine Augen leuchten und die Sehnsucht in mir geht auf, als hätte er mir Pottasche in den Glühwein geschüttet, den wir beim Backen trinken.

Wir rollen den dunkelbraunen Teig aus. Martin hat dafür ein extragroßes Nudelholz, was natürlich für Gelächter bei den Frauen gesorgt hat. Die Stimmung ist ausgelassen, allerdings bemerke ich, dass Martin stets Abstand hält. Ich sollte froh sein. Das ist es doch, was ich möchte ... theoretisch. Zwischen uns wird nichts mehr laufen, aber er sieht so süß aus, zum Anbeißen wie die Lebkuchen, die gerade heiß und duftend aus dem Ofen kommen. 

»Jetzt kommen wir zum schönsten Teil des Abends: Es wird dekoriert.«

»Hoffentlich bekommen wir das nach dem Glühwein noch hin«, stellt eine Dame kichernd fest. 

Vermutlich ist es nicht der Schönste, aber auf jedem Fall der klebrigste Teil des Abends. Während es bei Martin einfach aussieht, sind wir anderen offenbar nicht so begabt. Seine Zuckerlinien sind filigran, schnurgerade und perfekt. Bei mir ist es wacklig, verschmiert und ... jedenfalls weiß ich, dass ich die richtige Berufswahl getroffen habe. 

Am Ende des Kurses wird er von den Frauen umlagert, während ich eilig die Küche verlasse.

 

19. 

Nach dem Frühstück am Samstag setze ich mich mit einer Tasse Kaffee in die Lobby. Die Ledercouch neben dem Weihnachtsbaum macht einen gemütlichen Eindruck. Auf dem Tisch vor mir liegen einige Zeitschriften. Weihnachtsmusik dudelt angenehm leise im Hintergrund. Ich will nicht auf mein Zimmer, aber ich habe auch keinen Plan für die nächsten Stunden. Deshalb beobachte ich das aufgeregte Treiben, die Menschen, die den Frühstückssaal verlassen und gerade erst zum Frühstück runterkommen. Einige sind auch schon bereit, um die Adventsstadt zu erobern. Leider ist das Wetter nicht sehr verlockend. Dicke dunkelgraue Wolken bedecken den Himmel. Mit jedem Öffnen der Tür kommt ein Schwall eiskalter Luft herein. Ich versuche ihn zu ignorieren, aber meine Beine sind inzwischen schon ziemlich durchgefroren.

»Langweilst du dich?«, fragt plötzlich eine Stimme neben mir, während das Polster nachgibt. 

»Martin«, murmle ich und trinke einen Schluck Kaffee, um die aufsteigende Nervosität zu überbrücken.

»Lange nicht gesehen.« Seine Stimme klingt übertrieben fröhlich. Ich runzle die Stirn und schaue ihn fragend an. »Na ja, ich musste zugegebenermaßen meine Wunden ein wenig lecken, meinen zertrampelten Stolz wieder aufpolieren. Es ist mir noch nie passiert, dass ich so abrupt am nächsten Morgen rausgeschmissen wurde.«

»Tut mir leid, obwohl ich dich, rein technisch, nicht rausgeschmissen habe.«

»Du hast dich vor mir im Bad versteckt. Das macht die Sache nicht besser.«

»Es ist nur so«, fange ich an, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich ihm sagen soll. »Es ist verrückt, die alte Sache zwischen uns wieder aufleben zu lassen, unsinnig und schmerzhaft und ohne Zukunft. Wir sollten akzeptieren ...«

»Komm mit, ich zeig dir etwas«, unterbricht er mich, steht auf und streckt mir seine Hand entgegen. 

»Martin«, knurre ich unleidlich. »Hast du mir nicht zugehört?«

»Doch, habe ich und deshalb bitte ich dich, mich zu begleiten.«

»Dich zu begleiten?«, wiederhole ich mit einem schiefen Grinsen. Er lässt den Arm sinken und reibt über seinen Nacken.

»Ich will dich nicht ins Bett kriegen. Es ist ...«

»Schon gut. Ich komme mit.« Ich erhebe mich ebenfalls, unschlüssig, ob das wirklich die richtige Entscheidung ist. Mein Blick fällt auf seine Lippen. Wie ein Flashback überfallen mich die Bilder von unseren Küssen. Ich wünschte, ich könnte mich noch an seinen Geschmack erinnern, könnte mein Gedächtnis mit neuen Küssen auf die Sprünge helfen. 

Egal, wohin er mich bringt, diesmal schalte ich meinen Verstand nicht aus.

 

20. 

»Wie hat dir der Backkurs gefallen?«, fragt Martin, während er mit mir durch eine große Schwingtür geht. 

»Aus mir wird kein Bäcker, aber ich hatte Spaß. Ich glaube, ich war auch ein bisschen high von all den Gewürzen.« 

Er lacht und mein Herz schlägt sofort ein paar Takte schneller. 

»Die Gewürze sind das Beste«, behauptet er schwärmerisch. »Ich war vor drei Jahren auf einem Gewürzbasar in Istanbul und bin dort stundenlang herumgelaufen, habe gerochen, probiert, gekauft ... Vermutlich war ich danach tatsächlich high von den Düften.«

»Klingt nach einer großen Leidenschaft.«

»Vielleicht.« Er lächelt verlegen. 

Wir steigen unzählige Stufen nach oben und schlendern durch dunkle Flure. Die Treppen werden schmaler, schließlich gehen wir hintereinander alte hölzerne Stufen hinauf. Ich versuche nicht auf seinen Hintern zu starren, aber es ist nicht leicht.

Inzwischen bin ich mir nicht sicher, ob ich den Weg allein zurückfinden würde. Schließlich bleibt er vor einer alten Tür stehen, schließt sie auf und drückt die Klinke hinunter. Sie schwingt quietschend auf und gewährt mir einen Blick auf den Dachboden. Die Erinnerung überfällt mich schlagartig und lässt mich keuchend zurückweichen. 

»Komm mit«, sagt Martin und ergreift meine Hand, ehe ich sie zurückziehen kann. Es ist staubig und düster hier oben. Alte Möbel stehen herum, Spinnenweben hängen von den Dachbalken. Obendrein ist es kalt, sodass ich eine Gänsehaut bekomme. 

Martin bleibt abrupt stehen. Ich stehe so dicht hinter ihm, dass ich seinen Duft wahrnehme und seine Wärme spüre. Als ich an ihm vorbeischaue, entdecke ich auf dem Boden ein kuscheliges Deckenlager, inklusive zweier Tassen, einer Thermoskanne und einer Dose, auf der ein uns Weihnachtsmann zuwinkt.

»Was hast du vor?«, frage ich dämlich, denn es gibt keinerlei Zweifel an seiner Absicht.

»Wir beide machen es uns unter den Decken gemütlich, trinken heißen Kakao und naschen Plätzchen. Wie früher.«

»Wie früher«, murmle ich und reibe mir unwillig über die Brust. Mein Herz weiß nicht, ob es vor Freude schneller schlagen oder vor Panik explodieren soll. 

»Ich verstehe, dass du mir noch nicht vertrauen kannst, aber ich gebe noch nicht auf. Bitte Henry, gib uns doch eine Chance.«

»Eine Chance? Worauf denn? Wir leben in total verschiedene Welten. Du kannst hier nicht weg und ich werde nicht zurückkommen. Es geht nicht allein um Vertrauen, sondern eher darum, dass wir uns nicht sinnlos verletzen. Ich habe mich immer noch nicht von damals erholt.« 

 

21. 

Ich habe den Eindruck, dass Martin meine Worte ignoriert und ich bin leider nicht so felsenfest, wie ich es gern wäre. Jedenfalls sitze ich mit ihm zusammen auf dem Dachboden, eingekuschelt in Decken und heißen Kakao schlürfend. Immerhin wahren wir einen gewissen Abstand, denn wir sitzen uns gegenüber. Ihn anzusehen ist jedoch auch nicht zuträglicher für mein dummes Herz. 

»Dann bist du also so richtig glücklich mit deinem Leben?«, fragt Martin nach einer Weile.

»Puhh, was bedeutet schon richtig glücklich?« Ich trinke einen Schluck Kakao und versuche eine passende Antwort zu finden. »Glück ist so vergänglich und nicht wirklich ... wirklich greifbar. Es ist auch nicht unbedingt, wonach ich strebe. Ich will einfach nur ...« Ehe ich weiterreden kann, drückt Martin seine Lippen auf meine. Einen Moment erstarre ich, dann erwidere ich den Kuss. Ich spüre, wie er schmunzelt, dann beißt er mir sanft in die Unterlippe und lehnt sich wieder zurück. 

»Ich musste dich stoppen«, sagt er und schaut mich eindringlich an. »Du redest Bullshit. Wir leben nicht in verschiedenen Welten, sondern genau in einer, mit einer recht begrenzten Zeitspanne, in der wir versuchen sollten, so verdammt glücklich zu sein, wie es nur geht.« Er kniet sich vor mich, die dunkelblaue Wolldecke hängt wie ein Vorhang an ihm herunter. Ein Vorhang, unter den ich kriechen und mich verstecken möchte, denn sein Blick geht mir unter die Haut und bringt mein Herz dazu, schneller zu schlagen. 

»Was erwartest du eigentlich von mir, Martin?«, frage ich mit brüchiger Stimme, trinke meine Tasse leer und stelle sie zur Seite. 

Er kommt näher. Seine Nasenspitze berührt beinahe meine und mein Blick verschwimmt.

»Du könntest mir glauben, dass es mir leidtut und dass ich inzwischen recht genau weiß, was ich will.«

»Okay.«

»Und du könntest aufhören, so zu tun, als wenn du es nicht spürst.«

»Was meinst du?«

Martin gibt ein leises Knurren von sich, ehe er die Augen schließt. Sein warmer Atem streift meine Haut. Er haucht Schmetterlingsküsse auf meine Wange und mein Kinn, bis er endlich meine Lippen erneut berührt. Ich stöhne leise, lege eine Hand in seinen Nacken und ziehe ihn näher zu mir. Der Kuss offenbart alles. Ich bin hoffnungslos verloren. Es wird mich umbringen, nach Weihnachten wieder nach Hause zu fahren. 


Hier kommt natürlich noch die Auslosung des Schwängelbells-Gewinnspiel.

Da es mir in diesem Jahr so schwerfiel, habe ich beschlossen, dass Schwängelbells in diesem Jahr zum letzten Mal die Pforten geöffnet hat. 

 

Gewonnen hat:

Mimi

Herzlichen Glückwunsch!

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Piccolo II (Samstag, 23 Dezember 2023 15:39)

    Liebe Karo, Martin fährt alle Geschütze auf, die er hat, um Henri von sich zu überzeugen. Er ist auch fast am Ziel, aber Henri ist auch sehr stur und fürchtet sich davor am Ende wieder allein da zu stehen.
    Bis morgen und lieben Gruß,
    Piccolo